Gletscherarchäologie: Der eisige Pass der Wikinger
Zerschlissene Kleidung, Lederschlappen, Hufeisen und dutzende Pfeilschäfte – es ist Abfall, was Lars Pilø und seine Kollegen aufsammeln. Allerdings ist es kein gewöhnlicher Müll, für den sich die norwegischen Archäologen interessieren. Die Stücke sind bis zu 6000 Jahre alt und verraten den Forschern viel über das alpine Leben der Vergangenheit. Seit einem Jahrzehnt steigt Piløs Team jedes Jahr im Spätsommer in die gebirgige Gerölllandschaft von Jotunheimen auf, bis in gut 2000 Meter Höhe. Dort, inmitten der Provinz Innlandet, lesen die Forscher archäologische Artefakte auf, die anderswo kaum die Zeiten überdauern. Die Funde bestehen aus Holz, Tiersehnen, Textil oder Leder. In Europas Klima vergehen organische Stoffe relativ rasch. In Norwegens Gebirgsregion lagern sie Jahrtausende gut gekühlt in Eisfeldern – wie in einem gigantischen Gefrierschrank.
Insgesamt 3000 Objekte haben die Gletscherarchäologen bislang dokumentiert. Unweit mancher Eisflecken fanden sie zudem Rentiergeweihe, Knochen von Pferden und deren Hinterlassenschaften aus Lebzeiten: Das Eis hat auch den Mist der Tiere perfekt konserviert. Über das Alter der Stücke verraten die Fundplätze allerdings wenig. Deshalb haben Pilø und sein Team dutzende C-14-Datierungen durchgeführt und festgestellt: Die ältesten Objekte stammen aus der frühen Jungsteinzeit Skandinaviens, zwischen 4000 bis 3700 v. Chr., während die jüngsten Objekte bis in die Gegenwart reichen. Doch wie ist all das überhaupt in die raue Landschaft von Jotunheimen geraten? Was hat die Menschen dort hinaufgetrieben?
Aus den Funden und Fundorten schließen die Archäologen, dass die eisigen Regionen aus dreierlei Gründen ein lohnendes Ziel für die Menschen waren: Jagd, Viehtrieb und Handel. Den Austausch von Waren hatte man vor allem zur Zeit der Wikinger forciert. Eine ihrer Handelsrouten haben die Gletscherarchäologen nun im Gebirge von Jotunheimen entdeckt.
Routen durchs Gebirge
Der prähistorische Müll führte die Forscher auf die Spur. Er fand sich entlang eines Eisfelds, dem Lendbreen, auf knapp 2000 Meter Höhe. Der Eisfleck schmiegt sich an einen Berghang und säumt den Gebirgsrücken von Lomseggen. Genau dort, so schreiben die Forscher in einer jüngst veröffentlichten Studie in »Antiquity«, verlief ein Pass, auf dem vor allem zwischen 300 und 1000 n. Chr. Menschen unterwegs waren. Über die Route gelangten Bauern und Händler nicht nur schnell von den Talsiedlungen in hoch gelegene Sommergehöfte, sondern besonders zur Wikingerzeit transportierten sie hierüber auch begehrte Güter wie Rentiergeweihe und Felle, die über Skandinavien hinaus gehandelt wurden.
Mindestens fünf Wege führten über den Bergrücken von Lomseggen. Das wissen die Forscher aus historischen Quellen. Der Pass über den Lendbreen ist aber besonders deutlich im Gelände zu erkennen: Zahlreiche Steinhaufen markieren den Weg. »Es war eindeutig eine Route mit besonderer Bedeutung«, nehmen Pilø und seine Kollegen an. Dass aber tatsächlich Menschen den Lendbreen überquerten, davon zeugt vor allem das, was unterwegs kaputt oder verloren ging: Entlang der Passroute lagen Teile von Schlitten, Gehstöcke, Schneeschuhe, Hufeisen, Nägel, Messer und alte Kleidung. Auf dem Lendbreen ließen die Menschen auch verendete Lasttiere zurück, wie die Überreste von Pferden zeigten.
Sicher ist: Die Menschen gingen mit Sack und Pack über den Berg. Warum gerade dort, dazu haben Pilø und seine Kollegen eine plausible Vermutung. Das Gelände um den Eisfleck ist unwegsam. Die Gletscherarchäologen gehen deshalb davon aus, dass die Menschen einst nicht neben dem Eis, sondern direkt darüber liefen. Genauer gesagt, das Eisfeld machte den Lomseggen an dieser Stelle erst passierbar.
Der Berg als lukrative Ressource
Ein zersplitterter Ski und ein Pfeilschaft – das sind die ältesten Gegenstände, die der Lendbreen freigab. Sie stammen aus der Bronzezeit, die in Skandinavien um 1750 v. Chr. beginnt und bis 500 v. Chr andauert. Doch die Funde aus jener Epoche sind rar gesät. Das meiste gelangte erst später, ab 300 n. Chr. während der Eisenzeit, auf den Berg. Das legen jedenfalls die rund 60 Radiokarbondaten nahe, die Pilø und seine Kollegen ermittelt haben. Vor allem um 1000 n. Chr., zur Zeit der Wikinger, stapften die Menschen über den Lendbreen. Das entspreche dem, was sonst auch über diese frühmittelalterliche Epoche bekannt ist, schreiben die Forscher. Damals hatten die nordischen Wikingerkulturen ein weit reichendes Handelsnetz über Europa errichtet. Und die Bergregionen, in denen Rentierherden umherzogen, schätzten die Nordmänner vermutlich als lukrative Ressource für Felle und Geweihe.
Über den Pass trieben die Bauern jener Zeit wohl auch ihr Vieh, um die Tiere auf den Sommerweiden grasen zu lassen. Wahrscheinlich siedelten die Menschen schon vor rund 1500 Jahren in den Flusstälern am Fuß des Lomseggen – aus dieser Zeit stammen jedenfalls die ältesten Gräber im Tal.
Ötzi begründete eine Wissenschaft
Dass die Norweger in Jotunheimen reichlich Artefakte auflesen, ist kein Zufall. Erst die fortschreitende Erderwärmung hat die Stücke an die Oberfläche befördert. Ihr Forschungsfeld, die Gletscherarchäologie existiert im Grunde, weil es den Klimawandel gibt. Entsprechend jung ist die Wissenschaftsdisziplin. Der Startschuss fiel 1991, als die Eismumie vom Tisenjoch – Ötzi – ans Licht kam.
Dort wo das Eis schmilzt, haben Gletscherarchäologen reichlich zu tun. In Norwegen, Nordamerika und in den Alpen suchen sie Eisfelder und Gletscher ab, dokumentieren die Spuren von Menschen, die einst in die unwirtlichen Gefilde aufstiegen. Die Aussichten, tatsächlich auch fündig zu werden, sind jedoch nicht überall gleich günstig. Viel hängt davon ab, wo die Objekte einst verloren gingen. Gletscher etwa geben selten Vorgeschichtliches frei, da die Eisriesen ständig in Bewegung sind. Sie gleiten auf einer Schmierschicht aus Schmelzwasser. Das heißt: Alles was in einen Gletscher gerät, wird in wenigen Jahrhunderten erbarmungslos zermalmt. Doch die meisten Stücke, die Pilø und sein Team in Jotunheimen aufgesammelt haben, lagen nicht auf Gletschern, sondern am Rand von Eisflecken.
Wie Eisfelder entstehen
Eisflecken bilden sich meist im Schatten eines Berghangs, aber sie bewegen sich nicht, dafür haben sie viel zu wenig Masse. Denn in der Regel sind sie nicht dicker als 20 Meter. Völlig starr bleiben aber auch sie nicht. Schneit es kräftig im Winter und ist es im Sommer kalt, wachsen sie – fällt kein Niederschlag und ist die Witterung noch dazu mild, schrumpfen die Schneefelder. Schmelzwasser spült dann Gegenstände aus dem Eis bis an den Rand der Flecken. Dort wo sie die Archäologen später finden, fielen sie also nicht in den Schnee.
Nicht überall in Jotunheimen haben die Gletscherarchäologen Funde wie am Lendbreen gemacht. Bisher untersuchten sie 51 Eisfelder und kleine Gletscher und stießen meist auf Zeugnisse der Rentierjagd: Pfeile, Bögen oder Bruchstücke davon sowie hunderte Klappern. Das sind Stöcke, ungefähr einen Meter lang, an denen mehrere Hölzchen geknüpft sind, die im Wind flattern und aneinanderschlagen. Sie bildeten das entscheidende Element in der Strategie der eisenzeitlichen Jäger. Denn die scheuen Rentiere wichen den sich bewegenden Stöcken aus, welche die Jäger gerade so platziert hatten, dass ihnen die Beute vor den Bogen lief. Sie lagen hinter kleinen Feldsteinmauern auf der Lauer, die Piløs Team zahlreich in Jotunheimen dokumentierte.
Das Eis schmilzt unablässig
Funde von Pfeilen legen nahe, dass auch auf dem Lendbreen gejagt wurde. Bis ins Mittelalter nutzten Menschen den Bergpass. Der Zeit nach 1000 n. Chr. können die Forscher dann kaum noch Fundstücke zuweisen. Um 1400 bricht ihre Reihe ganz ab. »Der Niedergang hing vermutlich mit einer Reihe von Ereignissen zusammen«, sagt Lars Pilø. Er sieht einen Zusammenhang mit der Pest, die um jene Zeit in Norwegen wütete.
Neue Funde erwarten die Gletscherarchäologen am Lendbreen kaum noch. Das Eisfeld schrumpft unablässig. 2019 sei das Eis besonders stark zurückgegangen, berichten die Forscher. Als sie letztes Jahr den Fundplatz erreichten, lagen auf dem gesamten Eisfleck verstreut Artefakte. Es dürften die letzten Stücke gewesen sein, die in diesem Eisfeld schlummerten. Doch die Forscher haben noch genug zu tun. Zehn Kilometer entfernt vom Lendbreen haben sie einen weiteren Eisfleck erspäht, aus dem jetzt die ersten Objekte gewaschen werden.
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